Allgemeinmedizin

Ärger und Frust vieler Patient:innen sind nachvollziehbar. Da sind sie krankenversichert, bekommen aber bei ihren Hausärzt:innen mit Kassenvertrag keinen Termin oder aber sie haben ewig lange Wartezeiten. Und wer ist schuld? Im anlaufenden Wahlkampf sind Sündenböcke schnell ausgemacht. Da gibt es Parteien, die gerne auf die Allgemeinmediziner:innen hinhauen – nicht zuletzt mit Unterstützung irgendwelcher Daten. Zum Beispiel jenen des gewerkschaftsnahen Momentum Instituts. Dieses will herausgefunden haben, dass die Anzahl an Wahlärzten und -ärztinnen stetig zunehme, die Zahl der Medizinerinnen und Mediziner mit Kassenvertrag hingegen rückläufig sei. Damit lässt sich gut politisches Kleingeld machen, nur stimmen die Zahlen für die Vorarlberger Allgemeinmedizin halt nicht.

Wie eine Analyse der Ärztekammer für Vorarlberg ergibt, ist die Zahl der Wahlärzt:innen für Allgemeinmedizin im Land seit zehn Jahren tendenziell rückläufig. Waren es Ende 2013 noch 72 Kolleginnen und Kollegen, sind es Ende 2023 nur noch 70, zwischenzeitig waren es sogar noch weniger. Demgegenüber ist die Zahl der Kassenstellen für Allgemeinmedizin in dieser Zeit von 158 auf 160 angestiegen. Das vom Momentum Institut inszenierte Schreckgespenst, nach dem die ärztliche Versorgung zunehmend privatisiert werde, dürfen wir für die hausärztliche Versorgung in Vorarlberg getrost als Hirngespinst zurückweisen.

Eines aber zeigt sich ganz deutlich: Die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen durch die Bevölkerung steigt massiv. Für viele Menschen wird es immer selbstverständlicher, sich bei jedem medizinischen Problem eine Zweit- und Drittmeinung einzuholen, viele Patient:innen konfrontieren die Allgemeinmediziner:innen auch mit Problemen, die eigentlich keine ärztliche Abklärung bräuchten und früher mit Essigpatschen oder anderen Hausmitteln kuriert wurden. Das sieht man an den Zahlen: Die Arzt-Patienten-Kontakte bei den Vorarlberger Hausärzt:innen sind von 1,8 Millionen im Jahr 2013 auf heute zwei Millionen angestiegen. Die Kassenärzt:innen für Allgemeinmedizin werden geradezu überrannt. Bei zusammengerechnet 35.000 Behandlungstagen, die von den Kolleginnen und Kollegen jedes Jahr geleistet werden, ist es nur logisch, dass Ordinationen keine neuen Patient:innen mehr aufnehmen können beziehungsweise dass sich die Wartezeiten verlängern.

Es wird inzwischen Leistung am Limit erbracht. Was bei vielen politischen Zurufen von außen gerne übersehen wird: Das Gesundheitssystem hat ein strukturelles Problem. Und das löst man nicht, indem man Ärztinnen und Ärzten zum Start ihrer neuen Praxis einmal 100.000 Euro als ministerielle Belohnung in die Hand drückt. Auch das sieht man an den aktuellen Zahlen: Auf die erste in Vorarlberg mit dem Startbonus ausgestattete und ausgeschriebene Kassenstelle für Allgemeinmedizin hat sich bis heute niemand beworben. Die vom Gesundheitsminister in Aussicht gestellte Anschubfinanzierung bringt die Besetzung von Kassenstellen also auch nicht auf Touren. Das Problem sitzt tiefer, das sieht man auch daran, dass mit Ende vergangenen Jahres in Vorarlberg insgesamt zehn Kassenstellen für Allgemeinmedizin unbesetzt waren. Sechs sind es noch heute, die Wartezeiten für die Patient:innen werden also wohl nicht so schnell kürzer werden.

Was also tun? Die vom Bund der Sozialversicherung bereitgestellten jährlichen 300 Millionen Euro, die für eine quantitative und qualitative Verbesserung der ärztlichen Versorgung im niedergelassenen Bereich verwendet werden sollen, sind ein erster Schritt. Es braucht jetzt aber dringend bessere Arbeits- und Rahmenbedingungen für Kassenärzt:innen: weniger Bürokratie, hier insbesondere die Abschaffung oder zumindest Reduzierung der Chefarztpflicht; mehr bedarfsgerechte Kinderbetreuungsangebote und endlich auch ein Karenzmodell für den niedergelassenen Bereich; eine sinnvolle Patientenlenkung und auch eine Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit: nicht jedes Wehwehchen braucht ärztliche Zuwendung, nur weil diese von der Krankenkasse bezahlt wird. Damit könnten Parteien in diesem Wahljahr punkten – sofern ihnen die Versorgung der Menschen wichtiger ist, als politisches Kleingeld zu sammeln.