GLEICHBERECHTIGUNG

In diesem Jahr lohnt sich ein Blick auf längst vergangene Zeiten – Zeiten, deren Ereignisse durchaus Parallelen zu heute aufweisen: Gabriele Possanner von Ehrenthal startet ihr Medizinstudium, als Frauen in Österreich noch immer nicht auf akademischem Boden zugelassen sind. Die Tochter eines Sektionschefs im Wiener Finanzministerium studiert deshalb in Genf und Zürich, kehrt nach ihrer Promotion 1894 nach Wien zurück. Die Anerkennung ihres akademischen Grades wird ihr hierzulande jedoch verweigert. Nach jahrelangem und zähem Ringen um ihre Nostrifikation wird sie 1897, nach abermaliger Ablegung aller theoretischen und praktischen Prüfungen, als erste Frau in der österreichisch-ungarischen Monarchie zum „Doktor der Medizin“ promoviert.

Gabriele Possanner eröffnet zunächst eine Ordination als praktische Ärztin, tritt 1902 als erste Krankenhausärztin der Monarchie in das Kronprinzessin Stephanie-Spital ein und setzt sich – wie kann es nach dem Erlebten auch anders sein? – gemeinsam mit vielen Mitstreiterinnen für Frauenrechte ein. Auch für sich selbst, denn um ihr Wahlrecht als erste Frau in der Ärztekammer muss sie erneut heftig gegen männlichen Widerstand kämpfen, sie geht durch alle Instanzen bis zum Verwaltungsgerichtshof und wird schließlich 1904 zur Wahl zugelassen und auch gleich als Ersatzmitglied in die Kammer gewählt. Wir blicken heuer also auf ein besonderes Jubiläum: 120 Jahre Frauen in der ärztlichen Standesvertretung.

In all diesen Jahren ist die Medizin in Österreich zunehmend weiblich geworden. Von 1.858 aktiven Ärztinnen und Ärzten in Vorarlberg sind aktuell bereits 840 Frauen – das ist ein Anteil von gut 45 Prozent. Tendenz steigend. In den Fachgebieten Gynäkologie, Dermatologie, Kinder- und Jugendheilkunde, Lungenheilkunde, Pathologie und in den psychiatrischen Fächern gibt es bereits mehr Frauen als Männer, in der Allgemeinmedizin und einigen anderen Fächern halten die Geschlechter sich die Waage. Bei den Pensionsjahrgängen überwiegen die Männer, bei der jungen Zukunftsgeneration liegen aber Frauen vorne. Schon sehr bald werden sie mehr als die Hälfte des gesamten ärztlichen Personals in Vorarlberg stellen.  

Umso verstörender ist es für mich als Ärztin und Frau, wenn ich als „Kurienobmann“ betitelt werde. Geschäftsordnungen und Satzungen der Bundes- und der Landesärztekammern – die sich immer noch hartnäckig an das Maskulinum klammern – sehen das aber so vor. Auch das Ärztegesetz verweigert Frauen die sprachliche Anerkennung.

Wir in Vorarlberg haben zumindest schon den Namen der Kammer sprachlich geschlechtergerecht gemacht. Denn Sprache schafft Realität – sowohl Inklusion als auch Exklusion. Die Standesvertretung der Vorarlberger Ärzteschaft beherzigt das und zollt den Frauen entsprechend Respekt und Anerkennung – ich hoffe, dass das nicht nur für den Namen der Kammer gilt, sondern sich bald auch auf Satzung und Geschäftsordnung durchschlägt. Und auch in Niederösterreich bewegt sich etwas, dort wurde gerade erst am 4. September beschlossen, dass die Ärztekammer jetzt zur „Ärztinnen- und Ärztekammer für Niederösterreich“ wird. Nach 120 Jahren sollten das endlich auch die Österreichische Ärztekammer und die anderen Länderkammern in Angriff nehmen, um sich sprachlich aus der Vergangenheit zu lösen.

Apropos Vergangenheit: Mit 68 Jahren, das war 1928, wird Gabriele Possanner der Titel "Medizinalrat" verliehen – die männliche Form, versteht sich. In Wien-Hietzing wird eine Gasse nach ihr benannt und an ihrem Wohn- und Ordinationshaus in Wien-Alsergrund eine Gedenktafel angebracht. Seit 1997 verleiht das Wissenschaftsministerium den Gabriele-Possanner-Preis für wissenschaftliche Leistungen im Dienst der Geschlechterdemokratie.