Was wir aus der Corona-Krise lernen sollten: 5-Punkte-Plan für die Gesundheitsversorgung
ÖÄK, Gesundheitswesen
In der Corona-Krise zeigten sich Stärken und Schwächen unseres Gesundheitsversorgungs-Systems besonders deutlich. Die Bundeskurie niedergelassene Ärzte der ÖÄK präsentierte eine Bilanz und Optimierungsvorschläge.
„Unsere Gesundheitsversorgung muss fit für die Zukunft werden“, bringt Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte die Situation auf den Punkt. Im Rahmen einer Pressekonferenz, bei der eine Ärztin und zwei Ärzte mit einem Vorsorgemedizin-Schwerpunkt in ihren Praxen einen Überblick über Auswirkungen der Corona-Krise in ihrem jeweiligen medizinischen Fach gaben, warnte Steinhart: Vor allem die „Kollateralschäden“, also die Auswirkungen von Nichtbeanspruchung ärztlicher Leistungen während der Lockdowns, würden für ein ernstes Gesundheitsproblem sorgen. „Es muss unbedingt wirksam gegengesteuert werden, um diese Kollateralschäden möglichst einzudämmen“, appelliert Steinhart.
Kardiologie: Ernste Konsequenzen bei verpassten Verlaufskontrollen
„Ein besonders verbreiteter und folgenschwerer
Kollateralschaden der Pandemie ist die Gewichtszunahme, einerseits
durch Bewegungsmangel, aber auch durch veränderte
Ernährungsgewohnheiten“, berichtet Bonni Syeda, Kardiologin mit
Gruppenpraxis in Wien und stv. Obfrau der Fachgruppe Innere Medizin
der Wiener Ärztekammer. Durch diese Gewichtszunahme, aber auch weil
viele Menschen schon länger nicht zum Arzt gingen und somit
medikamentös nicht mehr optimal eingestellt seien, müsse man jetzt
feststellen, dass Patienten deutlich schlechtere Blutwerte aufweisen
würden als vor einem Jahr. Damit steige das Risiko von
Diabetes-Folgeschäden, generell könnten Folgeerkrankungen wie
Herzinfarkt oder Schlaganfall drohen. „Es ist daher essentiell, dass
wir die Menschen rechtzeitig zurück in die ärztliche Betreuung holen,
um solche Langzeitfolgen zu vermeiden“, sagt Syeda. Zudem gebe es auch
eine Reihe von Krankheitsbildern, die regelmäßig kontrolliert werden
müssen, in der Kardiologie etwa Herzschwäche oder
Hauptschlagader-Erweiterung, warnt Syeda. „Weil solche Krankheiten
ohne Verlaufskontrollen tödlich enden können, sind regelmäßige
Arztbesuche notwendig, um das Fortschreiten der Erkrankung rechtzeitig
zu erkennen und gegebenenfalls Therapien einzuleiten“, so die
Kardiologin. Durch die Pandemie komme es auch zu verzögerten
Erst-Diagnosen neuer Erkrankungen.
Probleme gebe es auch im Fall von Long-COVID, also Folgeerscheinungen, die viele Menschen auch Wochen oder Monate nach einer abgelaufenen COVID-Erkrankung verspüren. „Bei mittlerweile über 600.000 COVID-Erkrankten in Österreich besteht somit Handlungsbedarf, damit die Betreuung dieser Patienten auch als Kassenleistung möglich ist. Derzeit ist das nicht in allen Bereichen der Fall“, sagt Syeda , die an die Politik appellierte, baldigst die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um sowohl die Betreuung der Long-COVID Patienten im Kassenbereich zu ermöglichen, aber auch für jene Leistungen, die derzeit nur in den Spitalsambulanzen durchgeführt werden können. „Wir sind schließlich nach wie vor mittendrin in der Pandemie – und es ist höchste Zeit, dass die Politik diesbezüglich handelt“, so Syeda.
Hochrechnung: 150 mögliche Brustkrebs-Nachweise unterblieben
„Die Einbrüche bei radiologischen Untersuchungen während der
COVID-Krise waren dramatisch“, sagt Franz Frühwald, Facharzt für
Radiologie und Nuklearmedizin und stv. Vorsitzender der
Bundesfachgruppe Radiologie der ÖÄK. Im ersten Lockdown hätten die
Rückgänge bei radiologischen Untersuchungen rund 90 Prozent betragen,
die Rückgänge bei Mammografien liegen 2020 gegenüber 2019 bei knapp
einem Fünftel. „Das hat natürlich ernste gesundheitliche Konsequenzen,
weil Krankheiten bzw. deren Verschlechterung nicht entdeckt wurden und
deshalb angemessene Therapien unterblieben. Erforderliche bildgebende
Untersuchungen sollten also unbedingt baldigst nachgeholt werden“,
appellierte Frühwald. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
Brustkrebs in Österreich bei Frauen der häufigste maligne Tumor und
die Krebs-Todesursache Nummer eins ist, sei es alarmierend, dass im
ersten Corona-Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr die Zahl der
Mammografien um 18 Prozent, in absoluten Zahlen um 125.789,
zurückgegangen sind, sagt Frühwald: „Das bedeutet hochgerechnet, dass
in diesem Zeitabschnitt 150 mögliche Brustkrebs-Nachweise unterblieben
sind. Diese nicht entdeckten Tumore wachsen weiter, manche könnten
dadurch ein kaum behandelbares Stadium erreichen.“
Die Schlussfolgerung ist für ihn klar: „Versäumte Mammographien sollten also schnellstmöglich nachgeholt werden. Die Inanspruchnahme ist ohne Überweisung und ohne Einladung jederzeit möglich, sofern die e-card freigeschaltet ist bzw. seit der letzten Einladung keine Mammographie erfolgt ist.“
Dickdarmkrebs: 90 Prozent der Todesfälle vermeidbar
Friedrich Anton Weiser, Chirurg mit Gruppenpraxis für Chirurgie
mit Schwerpunkt Endoskopie in Wien und Obmann der Fachgruppe Chirurgie
der Ärztekammer für Wien, warnt vor den Auswirkungen von
Dickdarmkrebs. Dieser zählt zu den häufigsten und gefährlichsten
Krebserkrankungen. Jedes Jahr gibt es in Österreich 4.500
Neuerkrankungen, 2.700 Menschen sterben daran. „90 Prozent dieser
Todesfälle wären bei konsequenter Inanspruchnahme der Koloskopie
vermeidbar, was sie zur effizientesten Methode der Früherkennung und
Vorsorge macht“, betont Weiser: „Ein österreichweites
Koloskopie-Programm würde bereits nach zehn Jahren die jährliche
Krankheitsläufigkeit um fast 1.600 Patienten mit der Diagnose von
Darmkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium verringern.“ In über 90
Prozent der Fälle seien vor dem Entstehen der bösartigen Geschwulst
über Jahre Vorstufen in Form von gutartigen Darmpolypen nachweisbar.
„Der Lockdown, aber auch andere Phasen der Pandemie haben auch für die Darmkrebs-Vorsorge massive Rückschläge bedeutet“, erzählt Weiser: „In unserer Gruppenpraxis haben wir etwa 90 Prozent weniger Koloskopien durchgeführt, in absoluten Zahlen sind das 800 bis 900. Von diesen nicht untersuchten Menschen hätten hochgerechnet 200 Polypen gehabt, wovon sich 40 Prozent früher oder später in einen Tumor umgewandelt hätten.“
Der 5-Punkte-Plan
„Es zeigt sich also sehr deutlich, dass wir die Vorsorgemedizin
auf eine noch breitere und strukturiertere Grundlage stellen müssen,
als dies bisher der Fall ist. Die Potenziale der
Früherkennungsprogramme müssen möglichst vielen Menschen zu Gute
kommen“, sagt Johannes Steinhart, der einen 5-Punkte-Plan präsentierte:
- Ein neuer Gesundheitspass für alle Bereiche der Vorsorge- und Früherkennungsmedizin mit Erinnerungssystematik. Möglichst viele Menschen sollen vom Nutzen solcher Programme profitieren.
- Eine Sicherheitsreserve in den wichtigsten Bereichen der Gesundheitsversorgung. Ein enger geknüpftes Sicherheitsnetz bedeutet u. a. mehr Intensivbetten, mehr Ärzte, mehr Pflegepersonen, ausreichend Ausstattung mit Sicherheitsmaterial, etc.
- Ausbau der Digitalisierung als sinnvolle Unterstützung für Arzt und Patient. Bewährte Beispiele sind elektronisch übermittelte Rezepte, Krankschreibung per Telefon oder E-Mail, Online-Konsultationen von Ärzten, elektronischer Impfpass, etc.
- Eine Trendumkehr bei den Gesundheitsbudgets: Investitionen statt Dämpfungspfade. Gesundheit sollte als Wachstumssegment aufgefasst werden, und öffentliche Gesundheitsausgaben als sinnvolle Investitionen zum Nutzen der Bevölkerung.
- Dringend nötig ist ein moderner Leistungskatalog: Eine zeitgemäße Aufstellung aller Leistungen, die in Arztpraxen tatsächlich geleistet werden können und auch sollten. Er ist eine Basis für die Verhandlungen mit der ÖGK über einen neuen Honorarkatalog. Dieser Leistungskatalog werde nun in den kommenden Wochen vorgestellt, kündigt Steinhart an.